Katja Hoyer - Diesseits der Mauer: Alles, was ich im Geschichtsunterricht nicht über die DDR gelernt habe

Ein alter Autoatlas aus der DDR liegt auf einer Autoablage

Markus Spiske I Unsplash

Ich bin irritiert: Ich habe Diesseits der Mauer – Eine neue Geschichte der DDR 1949 – 1990 just mit Freude zu Ende gelesen und auf jeder Seite mir bis dahin unbekannte Details gelernt. Das mag daran liegen, dass ich als ‘77er*in einen Geschichtsunterricht hatte, der im Grunde zu 99 Prozent aus Hitler bestand. Tatsächlich habe ich erst nach meiner Schulzeit überhaupt begriffen, dass Deutschland Kolonien hatte. Und eben jene/r Lehrer*innen, die das kleine Detail Kolonialgeschichte unter den Tisch fielen ließen, hatten auch nie über die DDR gesprochen.

Katja Hoyer, 1985 in der DDR geboren, in Jena studiert, arbeitet und forscht heute als Historikerin am renommierten King‘s College in London, hat nun dieses eine Sachbuch geschrieben, das mir bisher fehlte.

Lebensnah, voller Fakten und Details, mit kleinen Kurz-Biographien von Bürger*innen und Zeitzeug*innen und trotzdem einfach zu lesen. Und hier setzt meine Irritation ein: Nachdem ich das Buch ausgelesen habe, wollte ich nur noch schnell einen Blick auf die Rezensionen werfen. Und siehe da: Mayhem!

Um Diesseits der Mauer herrscht eine riesige, große Debatte. taz, FAZ und SZ wettern gegen Hoyers Buch: Hoyer unterschlage Fakten, so die SZ, denn sie „…betreibe SED-Lesart.“ – und nutze darüber hinaus „nachweislich falsche Zahlen“.

In der FAZ wird Hoyer eine
„ … frappierenden Unkenntnis“ bescheinigt und vor dem Buch gewarnt. Die taz ist erzürnt. Titel, Thesen, Temperamente bejubelt wiederum in ihrem Beitrag.

Der SPIEGEL debattiert mit sich selber „Einseitig, grotesk verkürzt, faktische Fehler – dieses DDR-Buch ist ein Ärgernis” und „Wider den DDR-Hass“.

Ein Foto von einer alten DDR-Hausfassade, die DDR-Flagge hängt, sowie ein Schild, auf dem meine Heimat steht

Mykhailo Bykov I Unsplash

Äh, mir gefällt’s!

Versteht man meine Irritation, gefiel mir das Werk doch beim Lesen ausgesprochen gut? Den Verkaufszahlen sind die Rezensionen egal, das Buch geht wie gebutterte Schrippen über den Ladentisch und steht sowohl auf der SPIEGEL, wie der ZEIT-Bestsellerliste.

Ich habe viel aus dem Buch gezogen. Als Kind der 80er war die DDR ein diffuser Staat, den wir ein paar wenige Male auf dem Weg nach West-Berlin durchfahren sind, und in dessen Stadt Erfurt ich eine Brieffreundin hatte, der ich bestimmte Dinge nicht in den Brief schreiben durfte, da die Briefe gelesen wurden. Das war mir natürlich fremd, aber wirklich durchdrungen habe ich das alles nicht. Den Mauerfall habe ich bewusst erlebt und war begeistert: Freiheit, das war mir mit 12 klar, ist ein kostbares Gut. Dass die DDR eine Diktatur war, auch das war mir klar, aber wie und was und vor allem warum genau, dass eben alles nicht.

Weder kannte ich die Panik, die zur berüchtigten Stalin’sche Säuberung der geflüchteten deutschen Kommunisten in der Sowjetunion führte, noch die gezwungene Emigration deutscher Wissenschaftler*innen aus der Sowjet-Zone in die Sowjetunion, um den britischen und amerikanischen Besatzern keinen Wissensvorteil zu ermöglichen. Die Beziehungen der Alliierten, die wachsende beidseitige Spannung und der Anspruch auf die verschiedenen Sektoren, die sich selbst nährende Angst Stalins, noch mehr Einfluss zu verlieren, die Nato – vieles macht für mich jetzt erst richtig Sinn, nachdem ich es so flüssig in einigen wenigen Kapiteln nachlesen konnte. Apropos: Stalin, Ulbricht, Mielke – Wie sehr mir das noch einmal zeigte, dass Sozialismus niemals durch machtbesessene Menschen geschaffen werden kann.

Dass durch die hohen Reparationszahlungen, die Moskau gefordert hat, diese irrsinnige Leistungsgesellschaft entstand, die sich als Anti-Kapitalistisch verstand, die aber das Arbeitertum in der Identität, in der eigenen Flagge verankert hat, war mir komplett neu (Mea culpa, taz!). Und erklärt doch so vieles.

Am Ende ist es doch kapitalistischer als der Kapitalismus selbst, wenn man auf Biegen und Brechen die gleichen Konsummöglichkeiten wie in der BRD schaffen will, nur um mögliche Aufstände und Missmut der Bürger*innen zu umgehen. Dazu zitiert Hoyer: „Mit dem Streben nach materiellem Komfort und dem Erfüllen von Konsumbedürfnissen hoffte die Regierung, die Bevölkerung kurzfristig zufriedenstellen zu können“. „Ob das realistisch war oder nicht, Ulbricht glaubte feste an eine bescheidenere Gesellschaft, in der das Kollektiv Vorrang vor dem Individuum hatte. Kostenlose Bildung und Gesundheitsvorsorge, subventionierte Mieten und Nahrungsmittel für alle hatten den Preis, dass man lange auf ein Auto oder einen Fernseher warten musste. Honecker interpretierte materielle Wünsche dagegen als Kernelement und bemühte sich, diese in Form von partieller Verwestlichung zu befriedigen.“*

Und eben dafür wurde die Arbeit über alles gehoben.

Auch Frauen – die in der DDR in einer scheinbar gleichberechtigten Welt lebten. Vollzeitarbeit und eine Unterstützung am Arbeitsplatz vor und nach der Schwangerschaft, dazu eine umfassende Kinderbetreuung – das wurde auch im Westen beklatscht, aber ich bekomme da das kalte Grausen. Denn neben der Vollzeitarbeit, wohlgemerkt, waren Frauen in der DDR genauso wie in der BRD stark unterrepräsentiert in den Führungsebenen, sorgten zuhause auch noch für die gesamte Care-Arbeit und haben somit doppelt hart gearbeitet. Das ist gelebte Anti-Gleichberechtigung.

Fazit

Was soll ich nun für ein Fazit ziehen, wenn sich die Kritiker*innen so uneins sind. Ich fand das Buch lesenswert, interessant, lehrreich. Und mag es eigentlich nur empfehlen. Vielleicht, um in die Thematik einzusteigen und sich dann, wie ich, die Kritikpunkte der Rezensenten einzeln vorzunehmen und tiefer einzutauchen. Perlentaucher hat ein paar der Rezensionen aufgeführt, die es lohnt, begleitend zu lesen.

Katja Hoyer sagt übrigens selber zu ihrem Buch: «Es steht für mich außer Frage, dass die DDR eine Diktatur war. Die man sich keinesfalls zurückwünschen sollte. Trotzdem finde ich es falsch, das Leben dort ausschließlich unter dem Blickwinkel des Unrechtsstaates zu betrachten. Es war vielschichtiger.» (SPIEGEL, H. 19, 6. S. 45)

Und dann noch eine letzte Anmerkung, sicher zum Grauen der Feuilletonist*innen: ich hätte mir noch mehr Fotos gewünscht.

 (*S. 417)


Diesseits der Mauer - Eine neue Geschichte der DDR

ISBN: 978-3-455-01568-3

Verlag: Hoffman und Campe

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