Trauma: Die einen streiten darüber, die anderen leiden darunter

Eine Häuserfassade in New York, darauf ein Street-Art-Bild, auf dem steht "How are you, really?"

Foto: Finn Jup/Unsplash

Als psychisches, seelisches oder mentales Trauma (Plural Traumata, Traumen; von altgriechisch τραύμα ‚Wunde‘) wird in der Psychologie analog zum Trauma in der Medizin eine seelische Verletzung bezeichnet, die mit einer starken psychischen Erschütterung einhergeht und durch sehr verschiedene Erlebnisse hervorgerufen werden kann. Der Begriff ist unspezifisch und wird verwendet für das Erleben einer Diskrepanz zwischen einem bedrohlichen bzw. als bedrohlich erlebten Ereignis und den individuellen Möglichkeiten, das Erlebte zu verarbeiten (Wikipedia)


Trauma ist – endlich – im Mainstream angekommen: Bücher, Vlogs und Podcasts erzählen von Traumata&Heilung; traumasensible Yoga-Retreats und Meditation-Workshops behandeln das Thema „Das innere Kind“. Es scheint, als hätte jede/r in seinem Leben zumindest ein kleines Trauma davongetragen. Ist das wirklich so? Reicht ein strafender Blick einer Mutter oder braucht es schwere traumatische Lebensumstände, um heutzutage die Diagnose Trauma gestellt zu bekommen?

Darüber führen die einen also Streit und Diskussion, während andere darunter leiden. Streiten tun die Expert*innen und ich, als Betroffene mit Diagnose der Komplexen posttraumatischen Belastungsstörung schaue mir jetzt mal zwei Meinungen genauer an: die der ZEIT-Redakteur*innen Ijoma Mangold und Nina Pauer im Podcast „Die sogenannte Gegenwart“ und die der Trauma-Therapeutin, Autorin und Podcasterin Verena König. So viel sei verraten – ich gehöre zum Team König.

Ein Punkt eint beide: Trauma als Begriff wird niedrigschwellig genutzt, das Wort wird also oft undifferenziert eingesetzt und kann daher eine falsche Diagnose stellen. Kann. Verena König sagt dazu: Trauma ist etwas sehr Individuelles. Was für den einen „nur“ ein Schrecken ist, kann für den anderen eine Situation von traumatischem Ausmaß sein. Es ist immer wieder gut, sich das vorzuführen. Egal, ob man zu den Betroffenen zählt, oder eben auch nicht, man erlangt mehr Mitgefühl und Verständnis für das Leiden anderer.

Warum ich nicht mehr mit nicht-traumatisierten Feuilletonist*innen über Trauma spreche*

ZEIT-Autor Mangold hat dieses Mitgefühl eben nicht. Im Gespräch mit Pauer zeigt er sich geradezu unwillig, Trauma einen zu großen Raum zu geben. Für ihn gehören nur „echt“ traumatisierte Menschen in die Kategorie, richtiggehend genervt zeigen sich die Beiden aber von der „Nabelschau“ und dem im Kindheitsnebel herumgestochere von zu vielen Menschen heutzutage. So ein „Klaps“, wie er in den 70ern und 80er Jahren üblicher war, ja was sei denn schon dabei. Das sei doch keine schwerwiegende Erfahrung, diese Menschen möchten doch bitte nicht unnötig die Wartezimmer der ohnehin schon knappen Psychotherapeut*innen verstopfen.

Das sei für sie eine „Dramatisierung von Erlebten“ und damit einhergehend geradezu eine „Veredelung der Erlebnisse“. Auch der inflationäre Begriff der „Heilung“ stoße den Beiden eher sauer auf. So viele Wunden gäbe es doch gar nicht, die da zu heilen seien, das sei alles eine ausgeklügelte Geldmacherei und daher nicht nur nicht ernst zu nehmen, sondern am liebsten zu unterbinden. Von den Themen der trans-generationalen Traumatisierung ganz zu schweigen. Opas Kriegserlebnisse setzen sich auf keinen Fall in einem fest, so die einhellige Meinung der Beiden.

Mir fällt beim Hören des Podcasts auf, dass besonders Mangold mit einer so extremen Vehemenz das Thema von sich weist, dass man denken könnte, er wolle selber etwas um jeden Preis vermeiden, das ihn triggern könnte. Who knows. Ich jedenfalls finde das ganze Gespräch der Beiden sehr anmaßend.

Da reden wir endlich (!) auf der offenen Bühne über psychische Erkrankungen, da kommen Normalos und Künstler*innen jedweder Couleur endlich raus aus sich und sprechen frank&frei über ihre Bipolarität, Angststörungen oder Depressionen; Autor*innen reden über Essstörungen, im sehr empfehlenswerten Podcast „Danke, gut“ sprechen Musiker*innen über Sucht, Selbstzerstörung und Introversion – und schon schreien es die Feuilletonist*innen nieder. Auch Hypersensibilität kommt bei ihnen auf den Tisch: Gibt es gar nicht, gab es früher nicht, alles Blödsinn.

Himmel, die zwei roasten persönliche Erfahrungen, als hätten wir noch 1950 und Mutti soll bei Überlastung bitte lieber einen Schluck Frauengold kippen, statt über ihre Depressionen zu lamentieren.

Ich kann den Argumenten der Beiden tatsächlich gar nichts abgewinnen. Im Grunde erinnert mich das sehr an die aktuellen Rassismus-Debatten, bei denen ich just selber die Position des „Ja, aber so schlimm ist das und das ja gar nicht“ (Beispiel: FFF & Ronja Maltzahn) eingenommen hatte. Ich, als nicht Betroffene, habe mich also gegen die Gefühle der Betroffenen gestellt. Gleiches tun die Zwei nun. Als nicht-traumatisierte Personen urteilen sie über Betroffene. Lehrreich für mich!


Rezension: Bin ich traumatisiert? Von Verena König

Dia Traumatherapeutin Verena König sitzt auf einem Stuhl und schaut offen in die Kamera. Hinter irh ein abedunkelter Raum.

Credit: Verena König

Die muss es wissen: Trauma-Expertin Verena König

Verena König hingegen ist als langjährige Traumatherapeutin, Trauma-Podcasterin und Speakerin erfreut über die Aufmerksamkeit, die die Thematik derzeit erfährt. Wenn sie denn im richtigen Kontext steht. Damit Menschen sich ein Bild machen können, ob sie von Trauma betroffen sind, hat sie nach knapp 200 Podcast-Folgen „Verena König – Kreative Transformation“ noch mit einem Buch nachgelegt: „Bin ich traumatisiert?“.

Das Buch ist wie ihr Podcast: Wissenschaftlich fundiert, dabei leicht zu verstehen und immer zugewandt. Alles darf sein, alles hat einen Grund. Auf 250 Seiten erklärt König, wie es überhaupt zu einem Trauma kommen kann, warum das Trauma nicht die Aktion, sondern die daraus resultierende Folge ist. Sie erklärt unterschiedliche Arten von Traumata und was sie mit unserem Gehirn und Nervensystem machen. Sehr anschaulich wird die Thematik der Bindung erklärt, wann es zu frühen Traumata kommen kann und wie sich diese bis ins hohe Alter zeigen können, wenn sie nicht behandelt werden. Mir gefällt das Kapitel über die Neurobiologie von Stress & Trauma sehr gut, weil mich Hirn&Nerven sowieso faszinieren. Ich persönlich als Fortgeschrittene im Bereich Trauma&Behandlung lerne trotzdem noch vom Buch, ich hätte es gerne in meinen Zwanzigern schon gehabt, es erklärt vieles und zeigt Lösungswege auf. Unsere Psyche ist so geschickt darin, uns weiterzubringen, sie entwickelt Mechanismen wie den Perfektionismus, hinter dem genauso Verletzungen stehen können wie hinter Sucht – egal ob Drogen, Arbeit, Sex oder Instagram.

Hinter exzessivem Verhalten steht meist eine Kompensation von einem nicht befriedigten Bedürfnis.

König zeigt das alles und auch, wie wir uns beispielsweise selber helfen können, einen völlig übererregten Vagusnerv zu beruhigen. Das Buch bietet konkrete Hilfe zur Selbsthilfe: Vergebung ist beispielsweise nicht immer ein probates Mittel, um destruktive Bindungen zu heilen, König rät viel mehr dazu, auf Distanz zu gehen, statt immer wieder die Nähe einer Person oder Familie zu suchen, die nicht behobene Traumata damit jedes Mal wieder aufrütteln. Point taken! Auch zum Thema (gesunde) Beziehungen führen erwartet Leser*innen ein gut gefülltes Kapitel. 

Mein Trauma gehört mir!

Ein Unterkapitel ist „die Verurteilung als Abwehrreaktion“ – ein Phänomen, das mir immer wieder begegnet, das ich aber selber auch ausübe (s.o.). Dabei ist es so wichtig, Betroffenen zuzuhören, ihnen eine Stimme zu geben und anzuerkennen, dass wir schon lange nicht mehr in der natürlichen Umwelt leben, in der der Mensch eigentlich gedacht war. Permanente Überlastung von Eltern und Pädagogen, Reizüberflutungen und Umweltgifte, noch dazu leben wir doch kaum mehr in klassischen Groß-Familien-Konstrukten, wo jede/r jedem half und Kinder vor allem unter Kindern aufwuchsen – ja ist es denn ein Wunder, dass wir alle mehr oder weniger einen an der Mappe haben? Ich weiß, für Mangold ist das wieder zur lieblich gesprochen, der Mensch sei schließlich aus hartem Holz geschnitzt und man möge sich bitte nicht so anstellen.

Ich hingegen bleibe da lieber bei Königs Versprechen: Es ist nie zu spät für ein glückliches Leben. Du musst halt nur ran ans Trauma.


Podcast:
Die sogenannte Gegenwart / Populärpsychologie
ZEIT-Podcasts

Buch:
Bin ich traumatisiert? – Verena König
Buch (Softcover): 256 Seiten
Sprache: deutsch
ISBN-10: 3833878355
ISBN-13: 978-3-8338-7835-0


* „Warum ich mit nicht-traumatisierten Feuilletonist*innen nicht mehr über Trauma spreche“ ist natürlich eine Hommage an den Titel „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“, Reni Eddo-Lodge


Dieser Text enthält viel Herzenswerbung.

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