Meine Superpower: Radikale Akzeptanz und wie sie mir bei meinen Angsterkrankungen hilft
In der Psychologie versteht man unter dem Konzept der radikalen Akzeptanz die innere Bereitschaft, die Realität so anzunehmen, wie sie ist, mit all ihren Höhen und Tiefen, was aber auch bedeutet, all den Schmerz, die Frustration und Traurigkeit zu akzeptieren, diese nicht zu hinterfragen oder sich nicht gegen sie aufzulehnen. (Stangl, 2025).
Radikale Akzeptanz: als mein Verhaltenstherapeut mich 2017 mit dieser Form der Herangehensweise auf meine akute posttraumatische Belastungsstörung, die mir in einem fulminanten Zusammenbruch meine Phonophobie bescherte, hinwies, war ich begeistert. Radikalität? Kann ich ganz besonders gut. Etwas also ganz radikal anzunehmen, die Realität nicht verändern zu wollen, bzw. ganz radikal zu verstehen, dass ich die Umstände gerade nicht ändern kann, das fand ich großartig.
Ich hasse es, ewig herumzulamentieren, obwohl das natürlich auch mir passiert, aber dann finde ich mich selber doof. Ich liebe es, lösungsorientiert zu denken und neue Wege zu finden. Ich bin Typ von Pontius zu Pilatus und wenn 9 Ideen von 10 nicht klappen, klappt vielleicht die zehnte. Stillstand oder ewig an einem Elend herumknabbern ist nicht mein Ding. Daher fand ich seinen Vorschlag, es mit der ACT Methode, der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, zu probieren gut. Und ich habe lange, lange daran gearbeitet, ja, ich habe mir das Wort Akzeptanz sogar eintätowiert. Offensichtlich!
Akzeptanz- und Commitmenttherapie – ACT – ist eine neuere Form der Psychotherapie, bei der klassische verhaltenstherapeutische Techniken mit achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Strategien und mit Interventionen zur Werteklärung kombiniert werden. Die Akzeptanz – und Commitmenttherapie zählt zur dritten Welle der verhaltenstherapeutischen Interventionen (Stangl, 2025).
Ihm ging es also um die Methodik, die Dinge in dem Moment anzunehmen, wie sie sind. Damals lebte ich in meiner personifizierten Hölle: in einer hyper-hellhörigen Wohnung mit Nachbarschaftslärm aus vier Wohnungen neben, über und unter mir. Nur nachts war Ruhe und Ruhe – Ruhe war das, was ich am meisten zu diesem Zeitpunkt brauchte, denn ich befand mich im dritten Burnout meines Lebens. Was sollte ich damals tun? Der Hamburger Wohnungsmarkt war schon 2017 eine Farce. Freie Wohnungen waren Mangelware, freie bezahlbare Wohnungen quasi nur unter der Hand zu bekommen. Ich gab mir Mühe, doch ich bekam keine adäquate Wohnung. Ich überlegte zu kaufen, doch selbst das war nicht in Reichweite. Denn ich hätte starke Wände gebraucht, die keine Musik oder laute Nachbarschaftsgeräusche in meinen Safe Space gelassen hätten.
Akzeptanz auf den Fluren der psychosomatischen Reha
Das musste ich also radikal schlucken, kein Wohnungswechsel möglich. Die radikale Akzeptanz hatte also ihre Grenzen. Ich konnte akzeptieren, dass ich keine Wohnung fand, ich konnte auch akzeptieren, dass ich in einer Dauerschleife der Angst steckte. Aber gesund war die Situation dennoch nicht, nicht im Geringsten. Als ich im Herbst 2017 eine fünfwöchige psychosomatische Reha in einer Potsdamer Klink antrat, war ich ein Nervenbündel. Ich hatte die Klinikleitung im Vorgang gebeten, mir ein möglichst ruhiges Zimmer zu geben und das hat auch geklappt. Ich war im obersten Stock, ganz am Ende des Flurs. Dennoch eine Herausforderung: So ein Flur hat gut zwanzig Zimmer, und irgendjemand geht oder kommt immer. Rumpel, Rumpel, laute Schritte, lautes Gelächter: jedes Mal für mich eine Tortur. Doch ich gab mir Mühe, die Situation anzunehmen und das klappte auch okay. Mir tat diese Reha unheimlich gut, darüber habe ich hier auch geschrieben, den Post findest du hier.
Fun Fact: ich war 2021 wieder in dieser Klinik, wieder auf dieser Etage, im Zimmer gegenüber. Es war herrlich ruhig. Corona war da, viel weniger Patient*innen und ich hatte dieses Mal den Blick über dem See. Als ich eines Tages die Yogamatte ausrollte und ein bisschen Kundalini-Yoga praktizierte, fand ich am darauffolgenden Tag eine Notiz in meinem Postfach: Es war der Mensch unter meinem Zimmer, der mich bat, doch leiser zu sein. Ich war baff. Ich war laut, ich hatte jemandes Ruhe gestört? Ich war begeistert: Das war ein radikaler-Akzeptanz-Moment. Auch ich, ich mache Lärm! Ich schrieb zurück, bedankte mich für den Hinweis, erklärte meine Phonophobie und legte Schokolade in das Fach. Es kam ein lieber Brief zurück, mit einem Bio-Tee. Wir schrieben uns ein paarmal, sahen uns aber nie und ich war um eine schöne Erfahrung reicher.
Zurück zu Hause aber war ich wieder gefangen in der Angst. Ich nahm starke, angstlösende Medikamente ein und versuchte, mich mit Yoga, Noise-Cancelling-Kopfhörer und Atemtechniken ruhig zu bekommen. Allein, das Kind war in den Brunnen gefallen. Die Phonophobie begleitet mich bis heute.
Die Grenzen meiner radikalen Akzeptanz
Erst ein Umzug schaffte es, mein vegetatives Nervensystem zu beruhigen. Schritt für Schritt, auch mithilfe meiner Traumatherapie, schaffte ich es, diese Angstklammer loszuwerden. Wir wohnten in einem Neubau mit meterdicken Wänden, aber an einer Straße, gegenüber direkt eine Kneipe, laute Musik war alltäglich. Aber: ich lebte nun von Angstinsel zu Angstinsel. Und dazwischen lag das Meer. Auch unruhig und manchmal spiegelglatt und manchmal aufgewühlt. Aber immer mit Abständen der Panik. Ich konnte immer mehr akzeptieren, diese Phonophobie, die gehört zu mir. Die geht nicht mehr. Es lang also an mir, jetzt den Umgang damit zu lernen.
Es gibt viele Dinge, die ich radikal akzeptieren kann. Dass mein (Pflege-) Vater mich aus seinem Leben gestrichen hat, geradezu geghostet hat, weil ich durch den Burnout nicht bumsfidel, sondern anstrengend, weil vulnerabel war – radikal akzeptiert. Ich habe ihm einen langen Brief geschrieben und es, trotzdem es wehtat und ich ihn sehr gerne in meinem Leben hätte, akzeptiert. Ich habe auch radikal akzeptiert, dass meine beste Freundin, meine Schwester, ein extrem großer Teil meines Lebens, mich ebenfalls geghostet hat – aus dem gleichen Grund. Sie allerdings hatte auch gute Gründe, denn sie hatte viele, viele Monate zu mir gestanden und mich durch diesen Zusammenbruch begleitet, als niemand anderes da war. Sie konnte schlicht nicht mehr. Ich liebe sie bis heute noch innig – aber ich habe radikal akzeptiert, sie will mich nicht mehr in ihrem Leben. Ich habe zu akzeptieren gelernt, dass ich, früher hübsch, heute sichtbar mittelalte Frau, alt werde. Kollagen und straffe Haut war gestern. Jetzt: Akzeptiert. Ich erfreue mich über jeden Körperteil, das noch gesund ist.
Viel schwererer als all das, war er Verlust meiner Leistungsfähigkeit. Das mein altes Ich komplett gelöscht ist. Meine Energie, meine gestalterische Kraft, meine körperliche Kraft, mein geistiges Stehvermögen, mein Talent im Job – alles weggewischt, wie Kreide von der Schultafel. Unwiederbringlich: weg. Mein Blog ist mir geblieben als mein Ausdruckskanal, hier kann ich mich, der aktuellen Tagesform angepasst, noch austoben. Früher hätte ich allerdings einen Artikel am Tag geschrieben, heute schaffe ich nicht immer einen pro Woche. Auch das: ich habe es radikal akzeptiert. Oft wollen Menschen mich a) trösten oder b) misstrauen mir und denken ganz ableistisch, ich simuliere. Und sagen: Ach, das gibt sich bestimmt bald wieder. Und ich denke: Try walking in my shoes. Es ist, wie es ist. Ich komme nicht mehr in die alte Kraft. Es ist okay. Ich freue mich über das, was ich noch an Power habe.
Die Power der Akzeptanz lässt sich beliebig einsetzen: ob unerfüllter Kinderwunsch, dysfunktionale Familienbeziehungen, Jobverlust. Man kann wirklich vieles akzeptieren lernen.
Meine Ängste und wie ich sie radikal akzeptiert habe
Mit meiner wundervollen Traumatherapeutin Frau K. habe ich viel daran gearbeitet. Ich kann meine Ängste nicht bekämpfen. Obwohl, doch, ich kann sie bekämpfen, aber da ziehe ich immer den Kürzeren. Kampf bedeutet immer auch Energien zu verbrauchen. Und ich habe keine Energie. Also ist es sinniger, die Angst als das zu akzeptieren, was sie ist. Angst will uns immer beschützen. Meine Angst will meine Ruhe beschützen. Denn die Angst kommt ganz tief aus dem Unterbewusstsein, von der 5-jährigen Julia, die nicht schlafen kann, weil die Erwachsenen sich prügeln, laute Punkmusik hören und Alkohol und Drogen missbrauchen. Und die kleine Julia muss dazwischen gehen, sich vor ihre Mutter und gegen einen brüllenden Stiefvater, mit Messer in der fuchtelnden Faust stellen. Und im Nachthemd nachts um 2 Uhr beim Nachbarn klingeln, der sie und die zerschlagene Mutter zu sich in die Wohnung holt, weg vom Stiefvater. Diese Ur-Angst, diese Angst, getötet zu werden, ist nicht zu bekämpfen. Und bei mir ist die Musik von damals der Auslöser von heute. Musik in der Nachbarschaft katapultiert mein Nervensystem wieder ins Jahr 1983 nach Hannover-List. Beginnt ein Nachbar in der Nachbarschaft Musik zu hören, spult sich ein unterbewusster Mechanismus ab. Panik: Atem flacht ab, Herzrasen, Magensäure schießt die Speiseröhre hoch, Fight-or-Flight-Response setzt ein. Früher, in der alten Wohnung in Barmbek-Süd ging das so weit, dass ich mich vor einen Laster werfen wollte, einfach, damit die Todespanik in mir aufhört, weil sie so übermächtig wurde. Der einzige Ausweg schien mir die Selbsttötung. Tod wegen Todespanik. Da wende ich heute lieber die Akzeptanz an:
Die Angst ist da
Die Angst bleibt
Der Mensch, der da Musik hört ist nicht Uli H., mein räudiger Stiefvater (nicht zu verwechseln mit dem Pflegevater)
Der Mensch, der da Musik hört, hat kein Messer in der Hand
Der Mensch, der da Musik hört, hört damit auch wieder auf
Ich, die jetzige Julia kann der kleinen Julia Sicherheit geben, denn ich bin erwachsen, ich kann mit Menschen in Kontakt gehen, meine Situation erklären und um Ruhe bitten
Und falls der Mensch richtig ätzend ist, und brutal reagiert – … kann ich immer noch meine Siebensachen packen und gehen.
Aber die radikale Akzeptanz hat auch ihre Grenzen: Nur wer die finanziellen, kognitiven Ressourcen hat, kann den letzten Schritt gehen. Zu viele Menschen in schlimmen Situationen können nicht gehen – und dann hilft nur, sich das radikal einzugestehen, dass man eben nicht gehen kann. Und muss nach anderen Lösungen suchen und ins Handeln kommen.
Komm ins Handeln!
„Komm ins Handeln“ ist einer meiner Lieblings-Learnings aus der Therapie. Wir müssen uns um uns selbst kümmern. Es tut verdammt nochmal niemand anders für uns. Ob ärztliche Hilfsangebote, Selbsthilfegruppen, Online-Foren, TelefonSeelsorge, Therapie, Klinik, Frauenhäuser, etc. – wir müssen in Anspruch nehmen, was es an Hilfsangeboten gibt. Ich hätte dringend in eine Klinik gemusst, beim fulminanten Finale meiner Burnouts, aber es war schlicht niemand da, der das gesehen hat.
Wir haben glücklicherweise Zugriff auf eine Fülle an Informationen. Wer keinen Therapieplatz ergattert, und das ist häufig, der hat die Möglichkeit einer Online-Therapie (bspw. MindDoc Online, Kostenübernahme durch viele Versicherungen). Es gibt wertvolle Podcasts, es gibt Ratgeber, es gibt viele Online-Artikel, es gibt Magazine. Überall lässt sich hilfreiches finden. Wenn man die kognitiven Ressourcen hat. Viele Menschen aber sind in einer dumpfen Wolke gefangen, für diese Menschen benötigt es andere, staatliche Hilfen. Ich wünschte mir, ich könnte so viel mehr tun. Ich wäre früher eine ideale, radikale Kämpferin für Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Politik gewesen. Aber auch das, mit großer Trauer, habe ich begraben: Ich habe es radikal akzeptiert.
Mehr zum Thema und Hilfsangebote:
Hier gibt es ein PDF zum Download mit Akzeptanzübungen der Psychotherapeutenkammer Berlin: https://share.google/1jUay7K3Agadh5gJl
Deutsche Angstselbsthilfe e. V. – Der Verein setzt auf Selbsthilfe, moderiert Selbsthilfegruppen und stellt hilfreiches Material online zur Verfügung: angstselbsthilfe.de.
TelefonSeelsorge – die ist so ein Klassiker, da hat bereits meine Großmutter in den 1980er Jahren als Ehrenamtliche am Hörer Menschen zugehört. Erreichbar +49 800 111 0 111, +49 800 111 0 222 oder +49 116 123: telefonseelsorge.de.
Sehr empfehlenswert ist auch der Podcast von der Therapeutin und Bestseller-Autorin Verena König. Ihr Buch über Trauma hatte ich hier rezensiert. Auf YouTube kann man sich ihre Podcast-Folgen auch ansehen.
Ein leicht zu lesendes Buch über die ACT Therapie ist das Buch „Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei“.
Du hast noch Fragen? Schreib mir!